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Geschichte der Entmenschlichung

Oder : 500 Jahre moderne Wissenschaft und Kapitalismus

Hier ein Artikel aus Blätter 4/21

Die große Trennung

Die Geburt der technokratischen Weltsicht und die planetarische Krise

von Fabian Scheidler

Die Krise des durch massive menschliche Eingriffe beschädigten Lebens auf der Erde, die unter dem Namen Anthropozän firmiert, ist eng mit einem technokratischen Programm verbunden, das die Natur zu einer abgespaltenen und beherrschbaren Ressource in der Hand des Menschen degradiert. Obwohl die Naturwissenschaften – von der Quantenphysik bis zur Systembiologie – diese Vorstellung zum Teil längst überwunden haben, ist die technokratische Ideologie heute wirkmächtiger denn je. Der Grund dafür liegt in der engen Verbindung dieses Weltbildes mit dem vorherrschenden Wirtschaftsmodell.

Als sich die modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert in Europa entwickelten, vollzog sich gerade ein systemischer Umbruch, der in seiner Bedeutung nur mit der neolithischen Revolution – also der Entstehung der Landwirtschaft – vor etwa 10 000 Jahren und der Formation der ersten Herrschaftsapparate und Staaten vor 5000 Jahren zu vergleichen ist. Es war die Geburt dessen, was man später das moderne, kapitalistische Weltsystem genannt hat.[1] In jahrhundertelangen Kämpfen untereinander und gegen die bäuerliche Bevölkerung brachten Handelsmagnaten, Bankiers, Landesherren, Rüstungsfabrikanten, Großgrundbesitzer und Teile der Kirche ein System hervor, das vollkommen neu in der menschlichen Geschichte war. Es sollte sich als das produktivste und dynamischste, aber auch gefährlichste und gewalttätigste Gesellschaftssystem erweisen, das Homo sapiens je geschaffen hat. In wenigen Jahrhunderten eroberte es den gesamten Globus und wurde so zur ersten weltumspannenden Zivilisation. Und zur ersten Zivilisation, die in der Lage ist, den Planeten zu zerstören.

Der Kern dieses neuartigen Systems ist die endlose Vermehrung von Kapital in einem ununterbrochenen Zyklus von Profit und Reinvestition. Darin unterscheidet es sich grundlegend von anderen historischen Herrschaftsordnungen wie etwa dem Römischen Reich oder chinesischen Großreichen. Das Prinzip endloser Akkumulation ist in mächtigen Institutionen verankert, darunter Aktiengesellschaften und Bankhäusern, deren einziger Zweck darin besteht, eingelegtes Kapital zu vermehren, egal mit welchen Mitteln. Heute kontrollieren die 500 größten multinationalen Konzerne, die nach diesem Prinzip organisiert sind, etwa 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung und zwei Drittel des Welthandels.[2]

Die zweite tragende Säule dieser neuen Ordnung war der moderne Militärstaat, der sich seit dem 16. Jahrhundert co-evolutionär mit den wirtschaftlichen Machtstrukturen entwickelte. Für ihre immer größeren Söldnerheere und Feuerwaffen brauchten die Landesherren enorme Mengen an Kapital, das ihnen die Händler und Bankiers als Kredit zur Verfügung stellten. Das return on investment der Kreditgeber wiederum wurde aus den Raubzügen der von ihnen finanzierten Heere bestritten. Militarisierte Staaten und privates Kapital waren auf diese Weise von Anfang an untrennbar verflochten. Dieses System war und ist auf permanente ökonomische und militärische Expansion angewiesen, um das angelegte Kapital zu vermehren. Die von Europa ausgehende Kolonisierung der Welt war daher eine systemische Notwendigkeit, um die Maschinerie der Akkumulation in Gang zu halten.[3]

Diese Entwicklung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Geburt der modernen Naturwissenschaften, ja, es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sie ohne die kapitalistische Kriegsökonomie in dieser Form gar nicht entstanden wären. Händler, Bankiers und Landesherren brauchten für ihre Unternehmungen Technologie, zumal sie stets fürchten mussten, von der Konkurrenz überrollt oder verdrängt zu werden. Eine Klasse von ingeniariientstand, zu denen auch Erfinder wie Leonardo da Vinci und Galileo Galilei gehörten, die einen erheblichen Teil ihres Lebensunterhalts mit der Entwicklung militärischer Vorrichtungen bestritten. Die Entdeckung und mathematische Beschreibung der Fallgesetze und der Wurfparabel durch Galileo etwa hatte eine wichtige militärische Bedeutung, konnte man damit doch die Flugbahnen von Kanonenkugeln wesentlich besser berechnen. Auch Newtons Hauptwerk, die „Principia Mathematica“ (1687), in dem er seine Gravitationstheorie und die Grundlagen der Mechanik niederlegte, entsprang keineswegs einer Elfenbeinturm-Wissenschaft, sondern antwortete bis ins Detail auf die technischen Bedürfnisse der damaligen Kriegsführung, der Schifffahrt und des Bergbaus. Berechenbarkeit wurde zu einer entscheidenden Kategorie für Militärs, staatliche Beamte, Buchhalter und Investoren. Daher ist es kein Wunder, dass auch in der damaligen Forschung das Messen und Zählen immer mehr Vorrang vor qualitativen Betrachtungen bekam. Die Kultur, in der die modernen Wissenschaften geboren wurden, war vom Rechnen geradezu besessen, denn davon hing der militärische, politische und ökonomische Erfolg entscheidend ab.

Die Pioniere der neuzeitlichen Naturwissenschaften konnten meist nur ihren Lebensunterhalt verdienen und Karriere machen, wenn sie den Fokus ihrer Untersuchungen auf Dinge konzentrierten, die privaten und staatlichen Geldgebern nützlich waren. Ökonomie, Militär und Politik hatten daher erheblichen Einfluss auf die Auswahl von Forschungsgegenständen und Methoden. Es war außerdem keine Seltenheit, dass Wissenschaftler unmittelbar an der kapitalistischen Eroberung der Welt beteiligt waren. Viele der führenden Köpfe der frühneuzeitlichen Wissenschaft, darunter Francis Bacon, Robert Boyle, Christiaan Huygens, John Locke und Isaac Newton, waren Anteilseigner, Mitarbeiter oder sogar Direktoriumsmitglieder der großen Aktiengesellschaften, die gewaltsam die Kolonisierung Nordamerikas, Asiens und Afrikas vorantrieben. Für einige dieser Forscher war die Verbindung zum kolonialen Projekt nicht allein eine Sache der persönlichen Bereicherung. Für Robert Boyle etwa, einen glühenden Puritaner, war die Expansion des britischen Imperiums durch Aktiengesellschaften ein Mittel, um, wie er es ausdrückte, das „Imperium des Menschen über die niederen Geschöpfe“ herzustellen, das Adam in der Genesis verheißen worden war („Macht euch die Erde untertan.“). Christliche Mission, Kapitalakkumulation, koloniale Gewalt und Wissenschaft formierten sich zu einer Quadriga der Welteroberung und der Beherrschung der „niederen Geschöpfe“.

Die Natur als Objekt

Selbst wenn Forscher nicht so unmittelbar in die kapitalistische Expansion verstrickt waren wie etwa Boyle oder Bacon, so atmeten sie doch die Weltanschauung der Schicht, in der sie verkehrten und von der sie bezahlt wurden, täglich mit ein. Und diese Geisteshaltung war stark von einer Kultur der Berechnung geprägt. Die Welt war zu einem Spielfeld aus Ressourcen und Risiken geworden, auf dem es galt, sich durch geschicktes Kalkül möglichst viel anzueignen. Die Natur wurde so von einem lebendigen Netz, in das die Menschen eingebettet waren, Schritt für Schritt zu einem Objekt, das ihnen gegenüberstand.

Die Epoche der Renaissance, in der sich das neue System formierte, war geprägt von diesem fundamentalen kosmologischen Umbruch. Auf der einen Seite standen verschiedene Formen „organischer“ Weltbilder, die den Kosmos als ein Ganzes auffassten, beseelt von einer anima mundi (Weltseele).Giordano Bruno (1548-1600) etwa vertrat die Auffassung, dass das Universum sowohl unendlich als auch durchgehend beseelt sei, eine Idee, für die er von der römischen Inquisition schließlich bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. „Es ist nicht vernünftig, zu glauben“, schrieb er, „dass irgendein Teil der Welt ohne Seelenleben, Empfindung und organische Struktur sei.“[4] Johannes Kepler stand, eine Generation später, bereits an der Scheidelinie zu einer mechanistischen Betrachtungsweise. Er teilte zwar das organische Weltbild, insofern er zumindest die Erde als lebendiges Ganzes mit einer anima terrae ansah; zugleich aber schien ihm die Organismusmetapher nicht hilfreich, um die Bewegung der Gestirne zu verstehen. So schrieb er 1605 an einen Freund: „Mein Ziel ist es zu zeigen, dass die Himmelsmaschine nicht einem göttlichen Organismus gleicht, sondern einem Uhrwerk.“[5] Die im 14. Jahrhundert erfundene mechanische Uhr wurde zu einer zentralen Metapher für das neue Zeitalter. Doch erst in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) – eine weitere Generation später – traten Philosophen und Naturforscher wie René Descartes, Pierre Gassendi und Thomas Hobbes auf den Plan, die nicht nur die Planetenbewegungen, sondern auch die gesamte lebendige Welt als eine Maschine betrachteten (wobei Descartes den menschlichen Geist davon ausnahm).

Es wäre allerdings irreführend zu glauben, dass dieser kosmologische Umbruch bereits im 17. Jahrhundert die ganze Gesellschaft erfasst hätte. Zum einen waren die Ansichten der Mechanisten zu ihrer Zeit und auch noch Jahrhunderte später Gegenstand erbitterter Kontroversen, auch unter Wissenschaftlern. Zum anderen beschränkte sich die mechanistische Philosophie zunächst auf eine bestimmte Schicht von – fast ausschließlich männlichen – Gelehrten und Ingenieuren sowie Kaufleuten, Fabrikbesitzern, Regenten und Militärs, deren Art, mit der Welt umzugehen, durch die neue Lehre reflektiert und legitimiert wurde. Menschen hingegen, die den größten Teil ihrer Zeit mit Sorge- und Beziehungstätigkeiten verbringen, etwa subsistenter Landwirtschaft, Kindererziehung oder Betreuung von alten Menschen, konnten der Idee, dass die Welt eine Maschine ist, stets wenig abgewinnen. Erst in dem Maße, wie die gesamte Gesellschaft, von der Schule über die Landwirtschaft bis zur Fabrik, nach dem Modell der Maschine umgebaut wurde, konnte sich die technokratische Ideologie in der Breite durchsetzen.

Die Große Trennung lässt sich auf verschiedenen Ebenen verfolgen.[6] In der Malerei etwa, die in den frühkapitalistischen Zentren Italiens und der Niederlande eine rasante Entwicklung durchmachte, setzte sich seit dem 15. Jahrhundert nach und nach die Zentralperspektive durch, die auch für unsere heutige Bilderwelt bis hin zum Cyberspace charakteristisch ist. Während in früheren Darstellungen, ob im europäischen Mittelalter oder im alten Ägypten, Figuren und Dinge nach ihrer Bedeutung und ihren Beziehungen geordnet waren, sind sie in der Zentralperspektive entlang einer Linie angeordnet, die vom Auge des Betrachters zu einem imaginären Fluchtpunkt in der Ferne führt. Der Mensch steht einer durchschaubaren und mathematisch geordneten Welt gegenüber, die er erobern und sich aneignen kann.[7] Als Hilfsmittel zur Konstruktion der Perspektive wurde oft ein Fadengitter benutzt, das die Welt in Planquadrate zerlegte.

Die Obsession der Zerlegung, die prägend für die westliche Moderne werden sollte, hatte zwei verschiedene Seiten: Zum einen machte sie eine bis dahin unerhörte Genauigkeit der Untersuchung möglich und förderte auf diese Weise verborgene Strukturen sowohl der anorganischen als auch der organischen Sphäre zutage. Diese rigorose Konzentration hat erheblich zu den Erfolgen der Naturwissenschaften beigetragen. Auf der anderen Seite machte dieser Fokus aber auch viele Zusammenhänge unsichtbar. Insbesondere Kreislaufprozesse, die in der Natur eine so wichtige Rolle spielen, wurden auf diese Weise ausgeblendet. Es ist bemerkenswert, dass trotz der enormen Entwicklung der Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert erst in den 1940er Jahren die einfachen Prinzipien kybernetischer Regelkreise formuliert wurden.[8] Lebende Systeme beruhen auf komplexen Wirkungskreisen, bei denen jeder Teil zugleich Ursache und Wirkung sein kann. Zerlegt man diese ineinander verschlungenen Kreisläufe in einzelne Kausalvorgänge, um lineare Gleichungen vom Typ „aus A folgt B“ zu erhalten, dann versteht man zwar die Details immer genauer, das Ganze aber immer weniger. Ein kurzer Abschnitt eines großen Kreises kann einer Geraden zum Verwechseln ähnlich sehen – und so zu der Illusion verführen, die Zusammensetzung solcher Teilstücke würde am Ende eine lineare Kausalkette ergeben.

Auf diesem Irrtum beruht die Idee, der Mensch könne die Natur steuern und beherrschen, wenn er nur all die kleinen Kausalabschnitte addiert und die Parameter kontrolliert. Ein typisches Beispiel für diese Täuschung ist der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft. Die Anwendung der Chemikalien tötet zwar zunächst die Schädlinge und steigert die Erträge in linearer, berechenbarer Weise, doch wird zugleich der gesamte Kreislauf unterbrochen, in dem Insekten, Pilze und Pflanzen, die durch das Mittel ausgelöscht werden, eine entscheidende Rolle spielen. In der Folge verschwinden bestäubende Insekten und mit ihnen die Vögel, Bodenlebewesen sterben, die Fruchtbarkeit sinkt, und multiresistente Schädlinge breiten sich aus, die nun ein leichtes Spiel haben, weil auch ihre Fressfeinde ausgerottet wurden. Am Ende kann der Acker nur noch durch einen ständig steigenden Einsatz von weiteren Pestiziden und Düngern produktiv gehalten werden, bis er irgendwann tot ist. Die ökologische Vernichtung, die am Ende dieser Entwicklung steht, ist keine zufällige „Nebenwirkung“, sondern die zwingende Konsequenz, wenn man lebendigen Kreisläufen mit Methoden zu Leibe rückt, die dafür ersonnen wurden, die Flugbahnen von Kanonenkugeln zu errechnen.

Der Mensch als Objekt und die Spaltung von Körper und Geist

Nicht allein die mineralische, pflanzliche und tierische Welt wurde infolge der Großen Trennung zum Objekt, zur bloßen Ressource reduziert, sondern auch der Mensch selbst. Am offensichtlichsten war dies im transatlantischen Sklavenhandel. Vom 16. bis ins 19. Jahrhundert verschleppten europäische Sklavenhändler etwa zwölf Millionen Menschen aus Afrika und verschifften sie in die Karibik, nach Brasilien und in die heutigen USA, um sie dort an Zucker-, Tabak-, Kaffee- und Baumwollproduzenten zu verkaufen. In den Schiffen wurden die Menschen wie Mehlsäcke verladen, ein beträchtlicher Teil starb bereits auf der Überfahrt. Im französischen Code Noir, der bis 1848 in Kraft war, wurden Sklaven als meubles definiert, also als bewegliche Gegenstände, die der totalen Verfügungsgewalt ihrer Eigentümer ausgeliefert waren.

Der transatlantische Sklavenhandel war historisch eng mit der Ausbreitung der mechanistischen Philosophie verbunden. Descartes hatte eine scharfe Trennung zwischen den Menschen und der übrigen Schöpfung eingeführt, indem er behauptete, dass Tiere nur Automaten seien, der Mensch allein dagegen über Geist und Empfindungen verfüge. Auf dieser Grundlage genügte es, bestimmte Menschen einfach etwas näher an das Tierreich zu rücken, um die Sklaverei zu rechtfertigen. Die rassistischen Traktate und Pseudowissenschaften, die mit dem Aufschwung der Sklaverei ins Kraut schossen, sprachen Afrikanern und anderen Nichtweißen wesentliche menschliche Eigenschaften wie Intellekt und höhere Sensibilität einfach ab. Damit wurde ein beträchtlicher Teil der Menschheit ein Stück weit in die Kategorie der Tiere verschoben – und damit, im Weltbild der Mechanisten, der Automaten. Die Insel des Geistes, von der bereits die nichtmenschlichen Wesen vertrieben worden waren, wurde ein weiteres Stück kleiner, sie war nun ausschließlich den Weißen vorbehalten, während der Rest der Menschheit Teil einer geistlosen „Natur“ wurde.

In die gleiche Zeit wie der Aufschwung der Sklaverei und die Geburt des mechanistischen Weltbildes fallen die Höhepunkte der Hexenverfolgungen in Europa und Nordamerika. In den von Staat und Kirche betriebenen Hetzkampagnen wurden vor allem Frauen dämonisiert und als irrational gebrandmarkt. So wurden auch sie von der Insel des Geistes, der Zivilisation und der Kultur verbannt und dem Bereich der „Natur“ zugerechnet, den es zu zähmen und zu beherrschen galt.[9]

 Der Prozess der Trennung, Verdinglichung und Atomisierung machte auch vor dem Rest der Bevölkerung einschließlich der weißen Männer nicht halt. Die stetige Ausweitung der kapitalistischen Produktion in Bergwerken, Manufakturen und Landwirtschaft brauchte frei verfügbare Arbeitskräfte, die bereit waren, sich gegen Lohn zu verdingen. In der Frühen Neuzeit taten die meisten Menschen dies keineswegs freiwillig, solange sie noch in einem funktionierenden Netzwerk lebten, in dem sie relativ selbstbestimmt für den Bedarf der Gemeinschaft produzieren konnten. Zwölf Stunden täglich unter dem Kommando eines Chefs zu stehen, der jeden Arbeitsschritt überwachte, und gegen einen Hungerlohn Waren für einen anonymen Markt zu produzieren, war alles andere als attraktiv. Aus diesem Grund setzten Großgrundbesitzer, Fabrikanten und Regenten auf Repression: Drakonische Strafen gegen sogenannte Vagabunden, die Einrichtung von Arbeitshäusern mit Zwangsarbeit und die gezielte Abschaffung von Wohlfahrtsleistungen hatten das ausdrückliche Ziel, die widerspenstige Bevölkerung in die Lohnarbeit hineinzuterrorisieren. Arbeitsmärkte sind historisch keineswegs auf natürliche Weise entstanden, wie es moderne ökonomische Mythen wollen, sondern zu einem wesentlichen Teil durch physische und strukturelle Gewalt.

Die Ursache für den Widerstand gegen die Lohnarbeit lag nicht allein in zu geringen Löhnen, sondern auch in der mit ihr einhergehenden Entfremdung und sozialen Atomisierung. Wie der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi in seinem Buch „The Great Transformation“ anschaulich zeigt, bedeutet die Schaffung eines Arbeitsmarktes nichts Geringeres, als den Menschen zu einer Ware wie jede andere zu reduzieren, die genauso gekauft und verkauft werden kann wie Baumwollballen und die jederzeit und überall verfügbar sein muss, ohne Rücksicht auf kulturelle und soziale Bindungen.[10] Während Wissenschaftler die Natur in immer kleinere Bestandteile zerlegten, zerteilten Unternehmer und staatliche Akteure das Gewebe der Gesellschaft in atomisierte Wirtschaftssubjekte, die frei verfügbar und kombinierbar sein sollten. An die Stelle eines Netzes von kooperativen Beziehungen in einer Gemeinschaft trat die Konkurrenz um Arbeit und Geld. Der nutzenoptimierende Homo oeconomicus ist keineswegs der „Naturzustand“ des Menschen, wie der Mainstream in der heutigen Ökonomik behauptet, sondern eine historische Deformation.

Was zählt, ist allein, was man zählen kann

In der entfremdenden Lohnarbeit finden wir genau jene Trias wieder, die den Kern der technokratischen Ideologie bildet. Erstens: Was zählt, ist allein, was man zählen kann, in diesem Fall der ökonomische Output und das Geld. Die erlebte Qualität und der Inhalt der Arbeit werden zum subjektiven Rest, auf den es nicht wirklich ankommt und der auch fast nie Gegenstand größerer gesellschaftlicher Debatten ist. Zweitens: Der Mensch wird zum austauschbaren Objekt einer totalen Logistik in einer globalen Lego-Welt. Er ist nicht mehr eingebunden in Landschaften und soziale Beziehungsgefüge (von der Kleinfamilie vielleicht abgesehen), sondern als abgetrenntes Individuum verfügbar. Der Leiharbeiter ist heute zum Sinnbild dieser Entwurzelung geworden. Und drittens: An die Stelle von selbstorganisierenden kulturell-ökologischen Kreislaufprozessen treten lineare Ursache-Wirkungs-Ketten, die auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam beruhen.

Es hat über 200 Jahre gedauert, bis sich Menschen so weit an diese Atomisierung und Entfremdung gewöhnt haben, dass es ihnen heute als etwas Natürliches erscheint, ihre Haut zu Markte zu tragen und die eigenen Kinder schon im Vorschulalter für den globalen Wettbewerb zu trimmen. Allerdings ist diese Gewöhnung keineswegs mit Enthusiasmus zu verwechseln: Laut einer Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Gallup in 142 Ländern sind nur 13 Prozent der Werktätigen weltweit bei ihrer Arbeit motiviert.[11]

Die systematische Unterwerfung des tätigen Menschen unter fremde Zwecke führte zu einer tiefgreifenden Spaltung von Körper, Geist und Seele, die charakteristisch für die westliche Moderne werden sollte. Je bestimmender die „Sachzwänge“ des großen Räderwerks wurden, desto weniger war es tolerierbar, dass Menschen ihren eigenen Gefühlen, Gedanken und Impulsen folgten. Die Große Trennung spaltete daher nicht allein die Kultur von der Natur ab und trieb einen Keil zwischen die zunehmend atomisierten Individuen, sondern sie erzeugte auch einen tiefen Riss, der mitten durch den Menschen selbst verläuft.

Die modernen Disziplinaranstalten, die der französische Philosoph Michel Foucault so eindringlich beschrieben hat, spielten dabei eine entscheidende Rolle. In den seit dem 17. Jahrhundert aufgebauten stehenden Heeren wurden Menschen mit immer raffinierteren Methoden dazu gedrillt, ihre eigenen Gedanken, Gefühle und Körperimpulse so vollständig wie möglich zu unterdrücken, um auf Befehl wie gut geölte Roboter zu funktionieren. Die Schule, die im 18. Jahrhundert nach dem Vorbild des Militärs geschaffen wurde, trainiert diesen Modus der Entfremdung schon im Kindes- und Jugendalter. Auf den Schulbänken lernen wir oft bis heute, unseren Körper über viele Stunden jeden Tag in unbewegliches Sitzfleisch zu verwandeln, um abstraktes, von leiblicher Erfahrung abgeschnittenes Wissen in uns aufzunehmen. Zwar lernen wir auf diese Weise relativ wenig über die wirkliche Welt, da echtes Lernen nur gelingt, wenn es mit allen Sinnen geschieht. Aber wir lernen – und das ist der tiefere Zweck dieser Art von Beschulung –, das seelisch-geistig-körperliche Kontinuum, das mit seiner Mitwelt verbunden ist, zu zerbrechen und die Impulse unseres Körpers zu missachten. Denn nur so können wir auf all die entfremdenden und trostlosen Tätigkeiten vorbereitet werden, aus denen der größte Teil unseres Wirtschaftslebens besteht.

Die Abwertung der Innenwelten, die in der technokratischen Mythologie eine so wichtige Rolle spielt, erfüllt hier eine wichtige ideologische Funktion. Denn wenn allein der messbare Output des Menschen den Status einer höheren Realität erhält – ob in Form von Schulnoten, Banknoten oder militärischer Feuerkraft –, dann kann jeder Einspruch gegen die Zumutungen des Systems als bloße „subjektive Befindlichkeit“ abgetan werden. Die Mühlen der Disziplinarinstitutionen, die bereits im Kindesalter greifen und erst mit der Rente enden, führen mit der Zeit dazu, dass diese Ideologie Schritt für Schritt verinnerlicht wird und die eigenen Innenwelten zugunsten der Outputsteigerung verdrängt werden. Das Endstadium dieser Entwicklung ist erreicht, wenn es die äußeren Befehlshaber gar nicht mehr braucht, sondern jeder Mensch sein eigener Kommandant wird, um aus sich selbst maximale Vorteile im globalen Wettbewerb herauszuschinden. So wird der eigene Körper, die eigene Seele, der eigene Geist zum Objekt, zur Ressource.

Die Große Trennung und die damit verbundene Abspaltung der Innenwelten hat aber auch noch andere tiefreichende Gründe, die in der traumatisierenden Geschichte Europas liegen. Eng mit der Entwicklung der ökonomischen Strukturen der Moderne war der Aufbau gewaltiger Militärmaschinerien verbunden, die bald alles in den Schatten stellten, was die Welt bis dahin gesehen hatte. Seit der Einführung der Feuerwaffen im 14. Jahrhundert setzte eine fast ununterbrochene Kette von immer größeren Kriegen ein – vom Hundertjährigen (1337-1453) über den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) bis zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts –, die Generationen von seelisch zutiefst verstörten Menschen hinterließen.

Die renommierte Traumaforscherin Judith Herman schreibt: „Traumatische Ereignisse stellen grundlegende menschliche Beziehungen infrage. Sie verletzen oder zerbrechen die Bindungen der Familie, der Freundschaft, der Liebe und der Gemeinschaft. Sie zertrümmern die Konstruktion des Selbst, das durch die Beziehungen zu anderen geformt und aufrechterhalten wird.“[12] Typisch für Traumapatienten ist die sogenannte Dissoziation: das Abspalten von ganzen Gefühlswelten bis zur seelischen Betäubung („emotionale Anästhesie“) und die Entkopplung vom eigenen Körper, der als fremd erlebt wird. Das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Kohärenz des eigenen Lebens und der Welt als Ganzes zerbricht.

Vor dem Hintergrund jahrhundertelanger kollektiver Traumatisierungen erscheint die Große Trennung in einem ganz neuen Licht. Die Abkopplung und Ausblendung der Innensichten, des seelischen Erlebens, und die Unfähigkeit, in Beziehungen zu denken, sind als typische Traumasymptome zugleich charakteristisch für die atomistisch-mechanische Vorstellung der Welt.

Die Zerstörung kollektiver Sinngefüge

Die Große Trennung blieb nicht auf die westliche Welt beschränkt. Mit der militärischen und wirtschaftlichen Expansion Europas wurde schließlich der gesamte Erdball in das neue System integriert – ein Prozess, der für einen großen Teil der Weltbevölkerung mit tiefen Traumatisierungen verbunden war. In den USA etwa wurden die Native Americans, die den Genozid überlebt hatten, ab Ende des 19. Jahrhunderts einem Programm zur erzwungenen Assimilierung unterzogen. Eine wichtige Säule waren dabei die Carlisle Indian Industrial Schools, die 1879 von einem General namens Richard Pratt gegründet wurden. Pratt gab die Devise aus: „Kill the Indian in him, and save the man“ („Töte den Indianer in ihm und rette den Mann“). In Hunderten von Internaten wurden Kinder von insgesamt 140 indigenen Völkern gezwungen, ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Kosmologie und oft sogar ihre Namen aufzugeben. „Indianische Verhaltensweisen“ wurden durch körperliche Züchtigungen geahndet. Ähnlich verfuhr die australische Regierung: Zwischen 1905 und 1967 riss sie Zehntausende von Aborigines-Kindern mit Gewalt aus ihren Elternhäusern und deportierte sie in Missionsschulen, um ihre Kultur auszulöschen. Händler, Militärs und Missionare arbeiteten dabei Hand in Hand, um sich natürliche Ressourcen anzueignen, Arbeitskräfte auszubeuten und die Ideologie der westlichen Überlegenheit zu verbreiten. Nichtwestliche Lebensweisen und Kosmologien wurden so wahlweise als heidnisch, rückständig, irrational oder unterentwickelt gebrandmarkt und systematisch zerstört. Da Kosmologien eine mächtige Kraftquelle für Widerstand sein können, war ihre Auslöschung von Anfang an ein zentraler Pfeiler der Kolonisierung. Heute setzt die Zerstörung von indigenen Lebensräumen durch Holzplantagen, Minen, Erdölbohrungen und andere extraktive Projekte diese düstere Tradition fort. Das Ergebnis ist ein beispielloser Schwund an kultureller und sprachlicher Diversität. Laut UNESCO ist heute etwa die Hälfte der rund 6500 Sprachen, die auf der Welt noch gesprochen werden, akut vom Aussterben bedroht. Alle zehn Tage stirbt eine Sprache.[13]

Kosmologien können wie alle komplexen lebendigen Gefüge auf vielerlei Weisen sterben. Während es Jahrhunderte oder gar Jahrtausende braucht, bis sie sich entwickelt haben, genügen zu ihrer Zerstörung oft wenige Jahre, manchmal sogar nur Tage. Traumatische Erlebnisse wie etwa ein Massaker durch Kolonisatoren oder ein Flächenbombardement können in kürzester Zeit die über Jahrhunderte entwickelten inneren und äußeren Gleichgewichte einer Gesellschaft zerschmettern. Schleichender verläuft der Zerfall einer Kosmologie durch Eingriffe in die Lebensweise und Ökonomie. Doch wenn das komplexe Gewebe von Innen- und Außenwelt einmal zerrissen ist, lässt es sich nur sehr schwer wieder heilen.

Die Zerstörung gewachsener Sinngefüge durch die Expansion der modernen Megamaschine hat in vielen Teilen der Erde ein kosmologisches Vakuum hinterlassen, das mit verschiedenen Namen bedacht wurde. Max Weber sprach von der „Entzauberung der Welt“, Georg Lukács von „transzendentaler Obdachlosigkeit“ und Albert Camus von der „Absurdität“ der menschlichen Existenz. Es ist wichtig, sich hier darüber klar zu werden, dass diese „Entzauberung“ nicht von der Wissenschaft selbst ausging. Die emotional-geistige Entleerung der Welt ist nicht die Folge der wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern das Ergebnis eines gewaltsamen traumatischen Prozesses. Wo das Gewebe menschlicher Beziehungen durch strukturelle und physische Gewalt zerrissen wurde, wo die kosmologischen Gefüge in Trümmern liegen, erwächst in den Menschen eine Sehnsucht nach dem Ganzen, nach Teilhabe an einem größeren Sinnzusammenhang, in dem das eigene Leben seinen Platz findet. Diese Sehnsucht hat im Laufe der Moderne verschiedene Suchbewegungen in Gang gesetzt, die künstlerische, religiöse und politische Formen annahmen. Die Geschichte der Neuzeit ist ohne diesen dialektischen Prozess von Trauma und Suche nach Ganzheit nicht zu verstehen.

So verständlich, ja notwendig diese Suchbewegung ist, da Menschen nicht dauerhaft ohne ein Sinngefüge existieren können, so sehr birgt sie in unseren atomisierten Industriegesellschaften auch erhebliche Gefahren, besonders wenn die traumatischen Ursprünge der kosmologischen Leere verdrängt bleiben. Religiöser Fundamentalismus, Nationalismus und Faschismus haben in den vergangenen 150 Jahren immer wieder dazu gedient, die Sehnsüchte nach Verbundenheit und Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen auszunutzen und in eine destruktive Richtung zu kanalisieren.

Karl Polanyi hat darauf hingewiesen, dass der Versuch, Menschen zu verfügbaren Wirtschaftsatomen zu reduzieren, letztlich die Gesellschaft zerstört und unweigerlich massive Gegenreaktionen provoziert, zu denen auch Nationalismus und Faschismus gehören. Die Überwindung der Großen Trennung – nicht nur als Ideologie, sondern auch als gesellschaftliche Praxis – und die Wiederentdeckung echter Verbundenheiten ist auch in dieser Hinsicht eine Überlebensfrage für die Menschheit.

Digitalisierung als Radikalisierung der Großen Trennung

Obwohl die moderne Physik und Biologie längst die Vorstellung aufgeben mussten, dass die Welt eine Maschine ist,[14] schreitet die Maschinisierung unserer Lebenswelten immer weiter voran. Es scheint fast so, als sei das Leitbild der Maschine so tief in den genetischen Code dieser Zivilisation eingeschrieben, dass sie allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz nicht ruhen wird, ehe sie den gesamten Planeten in eine gigantische Apparatur verwandelt und noch den letzten Rest selbstorganisierten Lebens zum Verschwinden gebracht hat. Die Digitalisierung ist auf diesem Weg nur die jüngste Etappe. Menschliche Beziehungen werden Schritt für Schritt in Apparate hineinverlagert, an die Stelle direkter sinnlicher Wahrnehmung und Kommunikation treten digitale Schnittstellen. Auf diese Weise werden sowohl die Außenwelt als auch der eigene Körper immer weiter ausgeblendet. Die Digitalisierung führt damit die Große Trennung zur äußersten Konsequenz. Das geistig-seelisch-körperliche Kontinuum des Menschen wird an der Wurzel zertrennt, so dass nur noch ein körperloses Beobachtergespenst im Cyberspace übrig bleibt. An die Stelle einer verbundenen Mitwelt tritt eine programmierte Weltersatzmaschine. Alles, was Menschen darin noch erleben können, ist für sie von anderen präfiguriert worden.

Die Digitalisierung der Welt ist umrankt von einer umfangreichen Mythologie, in deren Zentrum der Begriff „künstliche Intelligenz“ steht. Das Wort „Intelligenz“ suggeriert hier, dass Maschinen in der Lage seien (oder in der Zukunft fähig würden), etwas zu erkennen und zu verstehen. Doch Erkennen und Verstehen sind Vorgänge, die unlösbar mit einer Innensicht verbunden sind. Einige Maschinen werden so programmiert, dass sie Verständnis und Gefühle simulieren, was man bisweilen auch als „schwache künstliche Intelligenz“ bezeichnet; aber das ist nicht mit der Existenz einer Innensicht („starke künstliche Intelligenz“) zu verwechseln. Es gibt derzeit nicht den geringsten Grund, anzunehmen, dass Rechenmaschinen und Roboter je zu so etwas in der Lage sein werden, gleich wie hoch ihre Rechenleistung ist.

Der US-Philosoph John Searle hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Computer lediglich syntaktische Maschinen sind, die Zeichen prozessieren, ohne ihre Bedeutung zu verstehen.[15] Was Computer tun, ist also etwas ganz anderes als das, was Menschen tun, wenn sie denken und sprechen. Auch was Computer sind – der Stoff, aus dem sie bestehen, ihre innere Struktur –, hat keinerlei Ähnlichkeit mit empfindenden und denkenden Wesen. Lebewesen bestehen aus selbstorganisierenden organischen Zellen, nicht aus statischen Halbleiterschaltkreisen. Eine Unterscheidung zwischen Software und Hardware gibt es bei ihnen nicht, denn ihr körperlich-geistiges Kontinuum ist Prozess und Substanz zugleich. Selbst das einfachste Bakterium hat in seiner Organisationsform wesentlich mehr Ähnlichkeit mit einem Menschen als ein Supercomputer. Lange bevor wir Rechenmaschinen menschenähnliche Eigenschaften zuschreiben könnten, müssten wir zunächst einmal den Bakterien dieses Privileg einräumen.

Die Mystifizierung von elektronischen Schaltkreisen hat zum einen handfeste ökonomische Gründe. Um milliardenschwere Forschungsgelder und Subventionen sowie öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, werden die Möglichkeiten von Rechenmaschinen maßlos übertrieben. Doch die Computermythologie reicht noch wesentlich tiefer, bis in die metaphysischen Fundamente der modernen Megamaschine. Einige federführende Akteure des Silicon Valley, darunter Googles Chefentwickler Ray Kurzweil, träumen seit Jahrzehnten davon, den biologischen Menschen abzuschaffen und sein Bewusstsein in ein Netz von Daten „upzuloaden“. Dieser „Transhumanismus“ ist weit verbreitet unter den Entwicklern künstlicher Intelligenz. Viele von ihnen erwarten sehnsüchtig in den nächsten Jahrzehnten die sogenannte Singularität: den Moment, wenn die Rechenleistungen von Computern die Denkleistungen von Menschen überschreiten sollen und die Automaten den körperlichen Menschen überflüssig machen. In dieser Vision verbinden sich die Geschäftsinteressen des Silicon Valley mit einer radikalen mechanistischen Ideologie: der Vorstellung, dass Lebewesen letztlich nur algorithmische Maschinen seien.

Das Warten auf den Moment, da der Mensch endlich als körperliches und fühlendes Wesen ausgelöscht werden kann, ist symptomatisch für eine technokratische Männerwelt, die von ihrer eigenen Innenwelt so weit abgespalten ist, dass sie Denken, Fühlen und Wahrnehmen von Rechnen – das Einzige, was Rechner können – nicht mehr unterscheiden kann. Es ist der Endpunkt einer Unterwerfung des Menschen unter die Maschinenlogik. Der Versuch, Menschen in einen Datensatz zu verwandeln, ist Teil einer Kultur des Todes, die alles, was Leben ausmacht – Spontaneität, fühlendes Erleben, Selbstorganisation und Kreativität –, durch Abstraktion und Berechnung ersetzt. Ihr Fluchtpunkt ist ein wüstenartiger Planet, auf dem einsam im dunklen Weltall ein blinkender Riesenrechner steht, der anzeigt, wie viel Geld er gerade verdient.

Der Beitrag basiert auf „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“, dem jüngsten Buch von Fabian Scheidler, das soeben im Piper Verlag erschienen ist.

In der Mai-Ausgabe der »Blätter« folgt ein weiterer Artikel von Fabian Scheidler, der sich mit möglichen Auswegen aus der planetarischen Krise beschäftigt.

[1] Der Begriff „modernes Weltsystem“ wurde von dem US-Soziologen Immanuel Wallerstein geprägt, vgl. Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem, Band 1-4, Wien 1986-2012.

[2] Bundeszentrale für politische Bildung, Weltwirtschaft und internationale Arbeitsteilung, Bonn 2005.

[3] Vgl. Fabian Scheidler, Das Ende der Megamaschine, Wien 2015, S. 77-104.

[4] Irving Louis Horowitz, The Renaissance Philosophy of Giordano Bruno, New York 1952, S. 27.

[5] Carolyn Merchant, Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, München 2020, S. 143.

[6] Zum Begriff der „Großen Trennung“ („Great Divide“/„Grand Partage“) vgl. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Frankfurt a. M. 2011.

[7] Zur Entwicklung der Zentralperspektive vgl. das klassische Werk des Kunsthistorikers Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“, Leipzig und Berlin 1927.

[8] Der Begriff Kybernetik (von griechisch kybernétes, Steuermann) wurde 1947 von dem Mathematiker Norbert Wiener geprägt.

[9] Vgl. Silvia Federici, Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Wien 2012.

[10] Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a. M. 1995 [1944].

[11] Gallup Report: State of the Global Workforce, Washington 2013, www.gallup.com.

[12] Judith Herman, Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence – from Domestic Abuse to Political Terror, New York 1992, S. 51 (Übers. d. Autors).

[13] Vgl. UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger, www.unesco.org/languages-atlas.

[14] Vgl. dazu Fabian Scheidler, Der Stoff, aus dem wir sind, München 2021, Kapitel 1-3.

[15] Vgl. John R. Searle, Minds, Brains, and Programs, in: „The Behavioral and Brain Sciences”, 3/1980, S. 417-457.

Aus: »Blätter« 4/2021

8 Gedanken zu „Geschichte der Entmenschlichung“

  1. Reine Zeitverschwendung, es sei denn die Kunst des Schreibens ist Gegenstand der Bewunderung. Das Buch vom März 21, aus dem der Text stammt, zeigt den Untertitel „Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Dies ist unbedingt erforderlich, sollte aber nicht mit einer geklitterten Geschichte der menschlichen Entwicklung, die schon den Amateur-Historiker erschaudern lässt, begründet werden. (Typischer Historikerfehler, heutiges Denken auf früheres Verhalten zu übertragen.) Die Antwort auf warum neudenken sollte nicht von Macht und Geld her sondern von der Kultur her mit dem Aufzeigen von was ist der Mensch beantwortet werden. Eine Quelle wäre Thomas Berry. He believed that humanity, after generations spent in despoiling the planet, is poised to embrace a new role as a vital part of a larger, interdependent Earth community, consisting of a “communion of subjects not a collection of objects.” He felt that we were at a critical turning point, moving out of the Cenozoic era and entering into a new evolutionary phase, which would either be an Ecozoic Era, characterized by mutually-enhancing human-Earth relations, or a Techozoic Era, where we dominate and exploit the planet via our technological mastery. Aus Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Berry nur mal so zum Beispiel.

  2. …es stehen auf jeden Fall viele große Worte im Text, die alles und nichts heißen können. Und dann wird fröhlich frei assoziiert. Da geht’s von Pestiziden zum Sklavenhandel und über die Kybernetik zur kosmologischen Leere einer fehlgeleiteten Eschatologie. Nur zum Zeigen, dass ich auch Fremdworte kann!
    Neben den historischen Handwerksfehlern (als ob es vor dem Kapitalismus sensu Smith nicht auch schon Ausbeutung, Entmenschlichung undsoweiter gegeben hätte und der Mensch ohne die – von wem eigentlich gemachten – sozialen Ordnungsstrukturen edel, frei und gut wäre) finde ich vor allem die Verzerrung der Perspektive auf das Individuum bedenklich: Erst durch die Prozesse gesellschaftlichen Wandels, die durch Aufklärung und Industrialisierung eingesetzt haben, konnte sich ein Großteil der Menschheit überhaupt den Luxus leisten, über individuelle Ziele, Selbstbild etc. Gedanken zu machen. Vorher waren in feudalen Gesellschaften Rollen festgeschrieben und die Schichten komplett impermeabel. Auch ein großes Wort.
    Natürlich hat er einen Punkt, wenn er die Illusion anspricht, Prozesse kontrollieren zu können, die wir in ihrer Komplexität und Interdependenz bei weitem nicht durchschauen, aber das hat wohl mehr mit allgemeiner menschlicher Fehlbarkeit und Selbstüberschätzung zu tun (der dann auch fehlgeleitete Auswüchse des Kapitalismus entspringen) als mit einer bestimmten Orientierung. Nein, das hat mir keinen Spaß beim Lesen gemacht!

  3. Aus dem Interview:
    „Ist Ihr Buch auch eine Antwort auf die Frage, warum wir die Klimakrise nicht in den Griff kriegen?
    Ja. Solange wir glauben, dass wir durch Technik alles kontrollieren können,sind wir unfähig, die tieferlegenden Strukturen, die unsere Zukunft bedrohen, zu erkennen und zu verändern. Wir brauchen ein neues Verständnis der Natur, das nicht auf Herrschaft, Kontrolle und Ausbeutung beruht, sondern auf Kooperation mit komplexen lebenden Systemen.“

    Die Technikgläubigkeit ist nur ein Teil dessen, was hier angeprangert gehört. Ja, die führt auch dazu, dass ein „Weiter-wie-bisher“ plus dieses „Die-Technik-wird-es-schon-richten“ (z.B. der Traum von der Kernfusion, ITER) verhindert, mit Ressourcen, Natur und Mitmenschen christlich umzugehen. Nein, was verlangt werden muss ist Bildung des Herzens und des Verstandes, Entwicklung des Menschen weg von Gier und Trieb, der Wurzel von Machtmißbrauch und Geldgeilheit.

  4. Ich schliesse mich Hans und Benjamin an, es rollen sich mir beim Lesen etwas die Fussnägel auf. Wenn man ein paar Mal das Wort „Kanone“ mit „Wissenschaft“ in einem Satz schreibt kann man Assoziationsmuster erschaffen die wahrscheinlich eher nicht grundsätzlich und universal zusammengehören. Der Schreibstil und die Einseitigkeit der Argumentation macht mich persönlich so reaktant, dass ich mich mit diesem Text gar nicht länger beschäftigen möchte, auch wenn ich einige Dinge ähnlich sehe. Zum Beispiel, dass manche Dinge tatsächlich falsch vermessen wurden/werden und dies zu viel Unheil führen kann. So ist ja bekannt, dass sich gerade in der Psychologie Probleme mit vielen klassischen Erkenntnissen über Zusammenhänge und etwaige Kausalitäten aufgetan haben. Hier hat z.B. auch viele erschrocken, dass Personen wie Martin Seligman, der unzählige Studien zu positiver Psychologie veröffentlicht hat (wenn auch zum großen Teil nicht replizierbar), anscheinend dabei geholfen hat, für die Amerikaner die effektivsten Foltermethoden zu entwickeln. Zwei Seiten der Medaille.

    Hans Hinweis auf Thomas Berry finde ich gut, ganz in diesem Sinne kann ich auch das Buch von Kai-Fu Lee: AI Superpowers – China, Silicon Valley and the New World Order sehr empfehlen. Das Buch beschreibt, was der Mensch der KI immer voraus haben wird und wie KI Ressourcen für wichtigere Dinge frei machen wird: soziales Handeln.

  5. Ehrlich gesagt, bin ich etwas überrascht über eure Kritik. Ihr habt ja Recht mit dem , was ihr Geschichtsknittelung oder historische Reduzierung nennt. Natürlich gab es schon vor dem Kapitalismus die Fremdbestimmung von vielen Menschen, schon bei den ollen Griechen und auch noch davor. Aber mir ist doch klar, dass jeder Historiker, jede historische Geschichte immer nur einen Teilaspekt beleuchten kann, ein gesamtes Richtig gibt es nicht und erwarte ich auch nicht. Und wenn ich solche Artikel lese, dann schaue ich, unabhängig ob ich den Autor mag oder nicht, oder seine Meinung, ob ich etwas finde, das ich gebrauchen kann. Und sei es nur, damit ich den Gegenüber (den Gegner) und seine Argumentation besser verstehen kann.

    Und in diesem Artikel ist der rote Faden das Nachforschen der weiteren menschlichen Entfremdung. Und zwar erst ab Mitte des letzten Jahrtausends, als mit der Aufklärung, dem Entstehen des Bürgertums und später der immer weitreichenderen Demokratisierung man ja unterstellte, der Mensch wird immer freier. Und sorry, ich bin vielleicht nicht so gebildet, aber mir hat der Artikel diverse Erkenntnisse vermittelt, die ich in den genannten Zusammenhängen so noch nicht hatte.
    Als da z B. wären die gegenseitige Abhängigkeiten von Militär, Wirtschaft und Wissenschaft und die Politik in deren Auftrag. Oder das mechanistische Denken, obwohl Außenseiter, trotzdem immer mehr gesellschaftlichen Einfluß gewinnend. Der Gedanke der Zerlegung und damit der genaueren Bestimmung, aber der Verlust, die Zusammenhänge zu sehen. (heute gibt es in allen Bereichen die Modelle, für die der Computer mit möglichst vielen Parametern gespeist wird, aber sehr häufig deren Interaktion nicht gesehen wird, bzw. man nicht weiss, wie man das programmiert). Die industrielle Landwirtschaft ist für mich nicht ein Hin und Her Springen, sondern ein gelungenes Beispiel. Die Sklaverei ist für mich auch ein gutes Beispiel, wie sich der Rassismus zum strukturellen Problem in der Gesellschaft entwickelt, also auch hochaktuell für heute die Spaltung in wir und ihr. Und eine Voraussetzung für die Spaltung des Rassismus ist auch die innere eigene Spaltung des Menschen, die der Autor versucht nachzuzeichnen. Seine Bezugspunkte zur Instrumentalisierung von Schule und Bildung. Usw.
    Für mich brachte der Artikel jede Menge zum Nachdenken und Hinterfragen, wie gesagt, ich verstehe gar nicht, dass ihr da nur Schwächen seht. (die ja auch da sind) Aber allein schon das Nachdenken darüber, wo er über all falsch oder nicht richtig liegt, fand ich schon bereichernd. Ich stimme Hans auch zu, das neue Denken sollte vom Menschen ausgehen, aber wenn man neues Denken auch umsetzen will, kommt man an Macht und Geld nicht vorbei. Insofern ist es auch nicht falsch, die Sache von der Seite aus zu betrachten.

    Tut mir leid, wenn euch der Text nicht Spass gemacht hat, jeder ist halt anders. Gruß Josef

  6. Beim Lesen der ersten Hälfte des Artikels überkam mich Staunen und Dankbarkeit, Staunen über die bisher nicht so erkannten Zusammenhänge der Weltordnung, die so viel Gutes und zu viel Schlechtes über die Menschheit schütteten, Dankbarkeit für die unendlich mühevolle Leistung des Zusammentragens diverser Entwicklungen in ein historisches Gesamtbild. Und somit machte mir das Lesen richtig Freude. Ich schließe mich also der Meinung Josefs an.

    Für mich persönlich ich es interessant zu erfahren, wie in der christlichen Spiritualität heute langsam das Dualistische Denken und Theologisieren überwunden wird und wie lange es brauchte die Hinrichtung eines Giordani Bruno damals – nun durch ein mildes aber doch verhehrendes Schweigegebot für Teilhard de Chardin 1960 zu verlängern. Das Wort der „beseelten Welt“ wiederholt das neutestamentliche Denken des ersten Jahrhunderts (durch ihn und mit ihm und in ihm ist alles geschaffen…) und wird heute wiederentdeckt von Mystikern aller Religionen. Die Wirkmacht des Schöpfergeistes offenbart sich in allem Geschaffenen, „the interconnectedness of all reality“ ist mein Lieblingsgedanke in der Wertschätzung alles Lebenden und der einer jeden Person . Und das ist keine Vermenschlichung, im Gegensatz zur Entmenschlichung, sondern Anerkennung kostbarer unwiederholbarer Einmaligkeit jedes Wesens, das sich entwickelt und wieder vergeht.

  7. Ich sehe es auch wie Josef. Bin gespannt auf das Buch, aus dem zitiert wird.. Meine Buchhandlung meldet sich, wenn es wieder lieferbar ist, z.Zt. vergriffen.
    Lieben Gruß an alle, Hans, Clan2 ist eine schön gemachte Seite.
    (Ich merke zur Zeit, wie privilegiert mein Ruheständlersein ist. Kann mich um alles kümmern, was mir gefällt. Mir wird der Unterschied wieder bewusst in dieser Woche, wo ich Fabian in der Praxis vertrete. Jetzt am Pausen-Mittwoch ist erst wieder Zeit, mails und mehr zu lesen. Von Blog-Artikeln Schreiben ganz zu schweigen.)

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